Rekordlänge und viel Kleingedrucktes: Die Koalitionsvereinbarung der neuen Bundesregierung.
Digitale Innovationen, Agrarwende und Kreislaufwirtschaft im Zentrum der politischen Planungen; man könnte auch sagen: Beginn des Umbaus zur sozialökologischen Marktwirtschaft
Zwei Monate nach der Bundestagwahl haben SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ihren Koalitionsvertrag zur Bildung einer neuen Bundesregierung unterzeichnet. Wie der Titel des 177 Seiten starken 4-Jahresplans „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ anklingen lässt, legen die drei Regierungsparteien den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit auf den „Kampf gegen die Klimakrise, die Digitalisierung und die [Sicherung des Wohlstandes], für eine moderne, freie Gesellschaft.“ Um diese Ziele zu erreichen wollen die Parteien die Bemühungen im Bereich der Entwicklung neuer Technologien und wirtschaftlicher Prozesse stark ausbauen, da sie sich „gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet“ fühlen. Regieren verpflichtet, sozusagen.
Der inhaltliche Schwerpunkt der Themen innovationsfreundlicher Regulierungsrahmen für die Wirtschaft, Beschleunigung der Digitalisierung und Umbau hin zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft zeigt sich nicht nur darin, dass ein neues Klimaschutzministerium gebildet wurde, das mit dem Wirtschafts- und Energie-Ressort zusammengeführt wird. Die neue Regierung beschreibt zudem gleich auf den ersten 64 Seiten ihres Koalitionsvertrages ausführlich, wie sie (digitale) Innovationen fördern und einen schnellen Umbau der Bereiche der Ernährung und Landwirtschaft, des umweltschützenden Wirtschaftens und der Mobilität schnellstmöglich erreichen möchte. Ein Vorgehen, das es in dieser Dringlichkeit und Detailtiefe so in den Koalitionsverträgen bisheriger Bundesregierungen nicht gegeben hat. Deshalb auch der lange Text.
Dezidiertes Ziel der neuen Regierungsparteien ist es, Tempo zu gewinnen und auch Regulierungsfelder anzugehen, in denen bisher aufgrund der „komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit“ wenig Novellierungen angegangen wurden. Die Ampelpartner gemeinsam die Dinge vorantreiben, damit Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können. Man hat schon das Gefühl, sie meinen es ernst.
Lesen hier unsere Einschätzung zu den Schwerpunkten Agrarwende, Kreislaufwirtschaft und Modernisierung des Gesundheitswesens.
Schwerpunkt Agrarwende
Im Bereich der Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik legt die Regierung einen besonderen Schwerpunkt auf Förderung des Tierwohls. Die Standards der Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sollen aktualisiert werden und der EU-weite Nutriscore „wissenschaftlich und allgemeinverständlich weiterentwickelt“ werden. Die politische Agenda der neuen Legislaturperiode sieht zudem vor, dass „Kriterien für einen ökologischen Fußabdruck“ der Ernährung entwickelt werden sollen. Darüber hinaus hat sich die Koalition vorgenommen „wissenschaftlich fundierte und auf Zielgruppenabgestimmte Reduktionsziele für Zucker, Fett und Salz“ zu schaffen und „mit allen Beteiligten die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch reduzieren“. Zudem plant sie den Anteil regionaler und ökologischer landwirtschaftlicher Erzeugnisse am Ernährungsmix der Bevölkerung deutlich zu erhöhen. Auffällig ist hierbei jedoch, dass es den Verhandlern von SPD, FDP und die Grünen aufgrund ihrer gegensätzlichen Auffassungen, offensichtlich nicht gelungen ist, eine klare Abgrenzung zwischen regional, bio und ökologisch zu ziehen. Für Unternehmen und Verbände aus der Food- & Beverage-Branche heißt dies konkret, dass die Agrarwende zur Top-Priorität der neuen Regierung erklärt wurde. Es besteht jedoch Bedarf für Aufklärungsarbeit und für eine Idee, wie der geplante Umbau finanziert werden soll. Ziel der politischen Kommunikation der Branche muss es daher sein, in Politikgesprächen, Veranstaltungen und Informationsmaterialien wie Politikbriefen und Positionspapieren die neuen Entscheidungsträger im Bund darin zu unterstützen, die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Dimensionen der anstehenden Reformen auszugleichen. Private Investitionen sind sicher gerne gesehen.
Schwerpunkt Kreislaufwirtschaft
Die neue Regierung legt sehr ausführlich dar, wie sie den Umbau hin zu einer Kreislaufwirtschaft erreichen möchte, bei der der Einsatz von Primärrohstoffen zu Gunsten von Sekundärrohstoffen drastisch heruntergefahren wird. Hierbei sieht der Koalitionsvertrag vor, „Qualitätsgesicherte Abfallprodukte aus dem Abfallrecht zu entlassen“, damit diese „einen Produktstatus erlangen.“ Zudem soll ein neues Recycling‐Label eingeführt werden. Die Entwicklung von Qualitätsstandards für Rezyklate zur Schaffung neuer hochwertiger Stoffkreisläufe soll beschleunigt werden. Es soll u.a. ein Anreizsystem etabliert werden, um „bestimmte Elektrogeräte und gefährliche Lithium-Ionen-Batterien umweltgerecht zu entsorgen und der Kreislaufwirtschaft zuzuführen.“ Darüber hinaus planen die Koalitionäre höhere Recyclingquoten und eine produktspezifische Mindestquote für den Einsatz von Rezyklaten und Sekundärrohstoffen auf europäischer Ebene festzuschreiben und sich für ein europaweites Ende der Deponierung von Siedlungsabfällen einzusetzen. Die Kreislaufwirtschaft soll insgesamt deutlich mehr Förderungen für „effektiven Klima- und Ressourcenschutz, [als] Chance für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplätze“ erhalten.
In Public Affairs-Hinsicht bietet dies hervorragende Gelegenheiten für Gespräche, um produzierenden Unternehmen, wie auch Unternehmen aus der Entsorgungs- und Recyclingbranche finanziellen Zuwendungen für den Einsatz neuer Technologien zu sichern und Abläufe zu vereinfachen.
Schwerpunkt Modernisierung des Gesundheitswesens
Im Block Pflege und Gesundheit wird ausführlich erläutert, wie die Versorgung von Patienten verbessert werden soll. Die Pläne beinhalten hier u.a. eine Reform der Krankenhausvergütung. Ziel einer hierfür kurzfristig eingesetzten Regierungskommission wird es ein hierzu Empfehlungen vorzulegen für die Schaffung einer „modernen und bedarfsgerechten Krankenhausversorgung“. Das bisherige System der Krankenhausfinanzierung soll dabei „um ein nach Versorgungsstufen (Primär-, Grund-, Regel-, Maximalversorgung, Uniklinika) differenziertes System erlösunabhängiger Vorhaltepauschalen ergänzt“ werden.
Darüber hinaus sprechen sich die Ampelparteien auch detailliert für eine schnelle Digitalisierung der Krankenhaus- und Pflegelandschaft aus. So soll in der neuen Legislaturperiode u.a. eine regelmäßig fortgeschriebene Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen entwickelt werden. Unternehmen aus diesem Sektor sollten sich daher mit der Politik darüber austauschen wie die avisierten Milliarden für eine flächendeckende Digitalisierung von Gesundheitseinrichtungen, beispielsweise durch die Einführung neuer Pflege und Krankenhaus-Apps effizient und schnell ausgegeben werden können. Krankenkassen sehen sich mit der Strategie der Bundesregierung konfrontiert die elektronische Patientenakte (ePA) und des E-Rezeptes beschleunigt einzuführen und flächendeckend anzuwenden.